Out of the dark...

Vom nicht immer ganz leichten Leben in der Ferne. Von Sprachbarrieren und Unfällen. Von Verlusten und Verletzungen. Von Ankommen.

Out of the dark...
A morning at Senzoku-ike (2023)

Nach bald einem Monat ein Lebenszeichen. Für alle, die nicht in irgendwelchen Familienchats mit Charlotte-Bildern überflutet werden :)

Nachdem unser letzter Bericht ja schon mit einem "cjb aus Minamisenzoku" schloss, sei hiermit auch formal vermeldet, dass wir in unserem permanenten Zuhause in Tokio angekommen sind.

Viel ist passiert. Ungefähr zwei Stunden nachdem ich unsere letzte Nachricht abgeschickt hatte - die Umzugsleute hatten den Tag über unseren Container entladen und die Möbel aufgebaut, Charlotte war schon im Bett und Janina hat das Bad eingeräumt - hat es plötzlich einen gewaltigen Schlag getan:

Das vollbeladene Bücherregal war umgekippt. Inklusive Fernseher, Löcher in den Wänden und kaputtem Parkett:

Erstmal sind wir geschockt, denn genau da hatte Charlotte den ganzen Tag vergnügt gespielt. Existenzielle Fragen. Warum ist man eigentlich hier? Warum ist man nicht einfach mal zufrieden mit dem was man hatte? Blaue Nacht. Kein guter Anfang.

Der Grund warum das Regal kippte (und das ohne Erdbeben), ist dass die Monteure nur Japanisch sprechen – und der angeblich Englisch sprechende Gehilfe sie rumkommandiert, ohne wirklich zu verstehen was zu tun ist. Klassischer Fall von Lost in Translation.

Exkurs: Apropos Erdbeben: Das passiert hier ja schon häufiger und stimmt einen dann natürlich noch ein bisschen nachdenklicher was schwere Möbel und Regale betrifft. Die Hauptgefahr bei einem Erdbeben besteht nämlich nicht darin dass Häuser zusammenbrechen, sondern das einen Gegenstände erschlagen. Zumindest in Japan, wo alle Häuser erdbebensicher gebaut werden müssen. Regale werden daher mit den Wänden verschraubt und offene Bücherregale betrachten die meisten Japaner auch eher als Gefahrenquelle denn als schönes Interieur.
Erdbeben sind allgegenwärtig.
Zwei Erdbeben hatten wir schon gleich zu Beginn erlebt. Eines davon hatte um 4:00 Uhr morgens das nationale Frühwarnsystem ausgelöst. Alle Mobiltelefone geben dann plötzlich auf maximaler Lautstärke Warntöne ab und plärren: "EARTHQUAKE, EARTHQUAKE, EARTHQUAKE". Dann verbleiben einem ca. fünf Sekunden und das Wackeln geht los. In diesen fünf Sekunden hat man dann schön Zeit sich auszumalen was gleich kommt. Charlotte hat das komplett verschlafen. Wir eher weniger. Beim zweiten saßen wir gerade beim Abendessen. Charlotte kommentierte das Ganze nur mit "HeHe - wackelt!" und mampfte fröhlich weiter. Nerven aus Stahl. Exkurs Ende.
Die Herren hätte man mal schaffen lassen sollen...
... ohne dass er sich einmischt.

Am nächsten Tag kommt der Präsident der Montagefirma und entschuldigt sich. Die Monteure sind dabei, der nicht-englischsprechende, englischsprechende Gehilfe nicht. Mehrfacher Kotau. Alle stehen bedröppelt im Kreis. Nochmal Kotau. Hier noch eine Packung Luxuskekse aus Frankreich. Ehrliche Bestürzung. Die versammelte Truppe räumt so gut es geht auf. Als sie gehen schenken wir ihnen noch Ritter Sport zur Aufheiterung, so mies sehen die Herren aus.

Zwei Wochen später sind Wände und Boden repariert und die verbleibenden Regale in Küche und Flur korrekt aufgebaut und verankert. Das Regal und den Fernseher bezahlt der Monteur, die vielen kaputten Bücher nicht. Wobei die sind durch den Containertransport so oder so schon alle ziemlich ramponiert. Vielleicht doch nur noch eBooks...

Wir beschließen nach wenigen Tagen unsere Bücher erstmal einzulagern, da wir uns nicht wohlfühlen vor dem Regal zu sitzen. So richtig schön ist das natürlich nicht. Wir hängen ja dran. Aber ein sicherer Platz ist in unserer kleinen Wohnung einfach nicht zu finden. Kein leichter Start.


Zahnarzt

Wenn es kommt ...

Am nächsten Samstag ist Benjamin morgens noch mit der Mülltrennung beschäftig (ein bald erscheinender Beitrag hier bei Tokyo Stories) und Charlotte und Janina besuchen ihn in der Garage. Die Omis beim Morgenspaziergang sind selbstverständlich ganz verzückt von Charlotte ("kawaii"). Charlotte ist das aber umheimlich und sie stürzt zur Mama. Gestolpert. Frontzahn ab. Aber Charlotte will trotzdem erstmal frühstücken. Tapferes Mädchen.

Zahnarzt anrufen (der samstags regulär geöffnet ist) und den größeren Teil des restlichen Samstags dort bzw unterwegs mit Hin-und Rückfahrt verbringen. Zum Glück scheint alles erstmal okay auszusehen - aber der Zahn kann nicht wiederhergestellt werden. Die Lücke bleibt bis in ein paar Jahren der neue Zahn kommt. Wir bekommen vorsorglich Antibiotika. Meine Frage, ob Antibiotika für Kinder in Japan auch knapp sei versteht die Apothekerin nicht – trotz perfektem Englisch. Sie kann sich das einfach nicht vorstellen. Wir sind am Abend alle fix und fertig. Kein leichter Start.

So erleichtert, dass der Zahn drinne bleiben kann. Wobei Charlotte ist ein "tapferes Mädchen".

Ein paar Wochen später, als alles abgeschwollen ist, gehen wir nochmals zum Zahnarzt. Da Charlotte keinerlei Einschränkungen hat und isst wie eine Wilde kann der Zahn so wie er ist drinbleiben. Erstmal. Vielleicht muss er noch gezogen werden. Aber erstmal ist alles gut. "Yokata!".

I'll follow you into the dark.

Vom Verlieren.

4. Generation trifft 1. Generation

Am 5. Juli 2023 ist (Ur-)Oma Helga Wilhelmine Wagner gestorben. Und dann sitzt man da in Tokio. Und grübelt.

Alles nicht so einfach.

Leben am See

Karpfen, Schreine, Kinderzentrum

Aber wir sind auch ein ganzes Stückchen mehr angekommen. Unser neues Zuhause am See bietet für die größte Großstadt der Welt wirklich unvergleichliche ruhige und idyllische Momente.

Wir können von unserem kleinen "Living-Dining-Kitchen"-Bereich direkt in ein fabelhaftes Biotop schauen. Mit bunten Karpfen, Enten und Fischreihern. Mit alten Bäumen und wilden Wiesen. Mit Schrein mit rotem Tori. Charlotte muss mindestens zweimal am Tag unbedingt raus und den Karpfen Hallo sagen. Und natürlich auch den Schildkröten. Inzwischen kann sie das auch schon auf japanisch "Konnichiwa Kame-san!".

3 Minuten fußläufig ist ein städtisches Kinderzentrum, in dem für Charlotte jeden Tag tolles Programm geboten wird. Die Spaziergänge um den See (und die Laufrunden) sind wirklich unglaublich.

Alles nicht einfach. Aber trotzdem irgendwie schön.

—cjb vom Senzoku-ike